Verfassungs­schutz­bericht 2023: Besorgnis­erregende Entwicklung in allen extremistischen Szenen

„Es gibt keine Entwarnung, im Gegenteil: Extremisten jeglicher Couleur haben ihre Bemühungen verstärkt, die Gesellschaft zu spalten und den politischen Diskurs mit ihren Positionen zu unterwandern.“ Das erklärte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann heute bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2023 in München. „Gerade bei Demonstrationen der bürgerlichen Mitte, gleich ob zum Klimawandel, zur Zukunft der Landwirtschaft oder zum Nahostkonflikt, mischen sie sich als Trittbrettfahrer unter die Menschen, um ihre eigene extremistische Agenda voranzubringen“, so Herrmann.

Eine weitere erschreckende Gemeinsamkeit sieht der bayerische Innenminister im Wiedererstarken des Antisemitismus: „In nahezu allen extremistischen Szenen erleben wir Scharfmacher, die aus ganz unterschiedlicher Motivation gegen Israel hetzen! Sie nehmen an pro-palästinensischen Versammlungen teil, nutzen die sozialen Medien, um Hass, Propaganda oder Fake News zu verbreiten und infiltrieren auch unsere Universitäten.“

Nahostkonflikt als Brandbeschleuniger

Der Nahostkonflikt wirkt nach Herrmanns Worten in der islamistischen Szene wie ein Brandbeschleuniger: „Islamistische Gruppierungen instrumentalisieren den Krieg und stellen Muslime weltweit als Opfer dar. Die Gefahr einer emotionalen Radikalisierung ist hoch.“ Von groß angelegten islamistischen Terroranschlägen ist Deutschland 2023 dank der hervorragenden Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zwar verschont geblieben, jedoch beweise nicht nur ein Blick auf den jüngsten Anschlag bei Moskau die ungebrochene Gefährlichkeit islamistischer Terroristen. „Propagandaorgane des IS-Ablegers ISPK rufen verstärkt zu Anschlägen auch in Europa auf – dabei stehen vor allem Großereignisse wie Konzerte oder Sportveranstaltungen im Fokus. Wir sind daher auch mit Blick auf die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft sehr wachsam“, kündigte Herrmann an.

Der Nahostkonflikt hat eine weitere beunruhigende Entwicklung zur Folge: Der Hass auf Israel und jüdische Mitmenschen vereint ideologisch extremistische Akteure aus unterschiedlichen, größtenteils verfeindeten Spektren. Exemplarisch nannte Herrmann säkulare palästinensische Extremisten und türkische Links- und Rechtsextremisten. „Der auslandsbezogene Extremismus ist zuletzt durch die starke Emotionalisierung im Nahostkonflikt deutlicher in Erscheinung getreten.“ Zum Beispiel auch in München: „Die Gruppierung „Palästina spricht München“ erweckt bei Versammlungen einen gemäßigten Anschein, verbreitet über die sozialen Medien aber ungeniert antisemitische Inhalte.“

Anzahl der Rechtsextremisten ist gestiegen

Das rechtsextremistische Personenpotential ist von 2.590 im Jahr 2022 auf 2.725 in 2023 angestiegen. „Das ist hauptsächlich Folge der deutlichen Steigerung der Mitglieder der Jungen Alternative“, sagte der Minister. „Die Gesamtzahl der rechtsextremistischen Straftaten ist erfreulicherweise von 787 auf 476 gesunken – ein Minus von fast 40 Prozent!“, so Herrmann. Allerdings haben sich die Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr auf nunmehr 52 mehr als verdoppelt. Die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes bestätigen, dass sich verfassungsfeindliche Tendenzen innerhalb der AfD weiter ausbreiten. Auch habe die Vernetzung der Partei in das extremistische „Vorfeld“ im letzten Jahr qualitativ und quantitativ zugenommen.

Auch die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter erfahre weiter Zulauf: „2023 wurden in Bayern 5.406 Personen als Reichsbürger identifiziert – ein neuer Höchststand!“ Auffällig dabei: Auch das gewaltorientierte Personenpotential ist auf 500 Personen angewachsen (2022: 450). Positiv hob Herrmann die Entwaffnung der Reichsbürgerszene in Bayern hervor.

„2023 wurde gegen alle insgesamt identifizierten 29 mutmaßlichen Reichsbürger mit Waffenerlaubnissen Widerrufsverfahren eingeleitet.“

Mehr linksextremistische Straftaten und Gewaltdelikte

Die deutsche linksextremistische Szene vertritt überwiegend pro-palästinensische Positionen, bis hin zur Verharmlosung oder gar Leugnung der HAMAS-Massaker. „Offenkundig setzt sich ein Großteil der Szene nur dann für Menschenrechte ein, wenn dies dem eigenen ideologischen Weltbild dient.“ Dies wirft ein Schlaglicht auf den in der Szene seit jeher vorhandenen Antizionismus als eine Spielart des Antisemitismus. Besorgniserregend sind laut Herrmann auch die Beeinflussungsversuche an deutschen Universitäten, mit denen durch aggressive Anfeindungen pro-israelische Meinungen unterdrückt werden sollen.

Auch wenn das Personenpotential der linksextremistischen Szene mit 3.260 (2022: 3200) im Jahr 2023 relativ stabil geblieben und bei den gewaltorientierten Personen ein leichter Rückgang auf 840 (Vorjahr 880) zu verzeichnen ist, bestehe kein Anlass zur Entwarnung: Linksextremistische Straftaten sind 2023 auf 378 (Vorjahr: 364) gestiegen. Besorgniserregend findet Herrmann insbesondere die Zunahme der Gewaltdelikte um rund 17 Prozent auf nunmehr 49: „Gewalt gegen Personen als Mittel der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner wird immer mehr akzeptiert. Das zeigen auch die Kampfsporttrainings, die von Szeneangehörigen besucht werden“, so Herrmann. „Zudem haben unsere Verfassungsschützer allein im letzten Jahr 21 Brand- und Sprengstoffdelikte festgestellt – in 11 Fällen Angriffe auf die Infrastruktur.“

Herrmanns Fazit: „Extremisten haben an einem Auseinanderdriften der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen und einer schwindenden Akzeptanz der Demokratie ein großes Interesse: Es bringt sie ihrem Ziel näher, unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat zu zerstören. Damit diese Rechnung nicht aufgeht, dürfen wir den Grundkonsens über die uneingeschränkte Geltung der Grundrechte und die Wertschätzung des Andersdenkenden niemals aufgeben.“